Sunday, 29 March 2020

Der Seifensieder und das Corona-Virus



„Es war einmal ein Mann, der war ein Seifensieder…“ - So fängt die Geschichte an, die ich heute erzählen möchte. Sie ist, ehrlich gesagt, nur eingeschränkt märchenhaft, denn sie handelt auch von Zahlen und davon, wie sie die Ausbreitung der Corona-Pandemie abbilden. Aber da genau das für viele Menschen ein Buch mit sieben Siegeln ist, kommt hier:

Die bittere Geschichte vom übermütigen Seifensieder Exsder und seinem Freund dem Kastenbauer.

Vorspann:
Wir befinden uns in einer deutschen Kleinstadt auf dem flachen Land. Die braven Bürgerinnen und Bürger halten sich meist an die neuen Abstandsregeln. Die Schulen und die meisten Geschäfte sind geschlossen, einige Firmen arbeiten noch. Nur das Coronavirus treibt sich geschäftig um von Mensch zu Mensch hüpfend woimmer es kann. Die meisten Menschen bleiben gesund. Einige wenige werden bitter krank  und sterben jämmerlich.

Und hier kommt die Geschichte vom Seifensieder.
Sie soll helfen, anschauliche zu machen wie das Coronavirus vorgeht, hoffe ich:

Es war einmal ein freundliche Seifensieder, nennen wir ihn Lisder. Als diese Geschichte beginnt, hat er 100 Stück Seife auf Lager. Täglich produziert er 10 neue Stücke, die er in sein Lager bringt, um sie auf den großen Frühlingsmärkten im Mai zu verkaufen.
Wie wird sich sein Bestand in den kommenden 10 Tagen verändern? Am ersten, zweiten, dritten ... zehnten Tag? Er wird wachsen: 110, 120, 130 Stücke bis hin zu 200. Nach 20, 30, 40, 50 Tagen, besitzt er 300, 400, 500, 600 Stücke. Im Mai hat er dann mehrere hundert Stücke, um sie zu verkaufen. Das ist lineares Wachstum!
Anders ergeht es dem übermütige Seifensieder, nennen wir ihn Exsder. Auch er produziert Seife. Doch er erzeugt jeden Tag 10 Prozent des Lagerbestandes vom Vortag. Am Tag an dem die Geschichte beginnt startet er mit 100 Stück Seife im Lager. Am 1. Tag hat er abends 110, am 2. 121, am 3. 133. Dann. 146, 161, 177, 195, 214, 236 und 259 Seifenstücke. Wenn er so weiter macht, dann wird er nach 20, 30, 40, 50 Tagen 673, 1.745, 4.526, und zum Schluss 11.739 Stücke Seife in seinem Lager haben.
Es liegt auf der Hand: Schon nach kurzer Zeit wird Exsder, der übermütige Seifensieder, um ein Vielfaches erfolgreicher sein, als sein Kollege Lisder. In den ersten Tagen fällt der Unterschied kaum ins Gewicht. Es sind nur ein paar Stücke Seife mehr, die Exsder produziert. Aber dann: Die Produktion zieht an. Die Anzahl der Seifenstücke schnellt in die Höhe! Alle sieben Tage verdoppelt sich die Ware von Exsder, während der beschauliche Lisder nur 70 zusätzliche Stücke Seife produziert haben wird.
Jedoch steht beiden Seifensiedern ein Problem vor der Tür: Wohin mit all der Ware? Glücklicherweise haben unsere Seifensieder Freunde, die Kisten produzieren, in die 100 Seifenstücke passen. Gewöhnlich baut ein Kistenbauer jeden Tag eine solche Kiste.
Dem freundlichen Seifensieder passt das gut: Alle zehn Tage bekommt er seine Kiste und weiß seine Ware gut verstaut. Die beiden, Lisder und sein Kistenbauer, arbeiten perfekt miteinander. Der eine macht seine Seifen, der andere die Kisten, und beide sind zufrieden. Keine Seife liegt unverpackt herum. Im Mai kann der freundliche Seifensieder mit fünf oder sechs Kisten Seife über die Frühlingsmärkte ziehen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann arbeiten und leben sie heute noch.
Dem übermütigen Seifenbauer  geschieht es anders. Der Kistenbauer wird am Tag 1 seine erste Kiste liefern. Seine zweite Kiste schon am Tag 7, drei Tage früher,  als der freundliche Seifensieder seine zweite Kiste benötigt.
Dann geht es Schlag auf Schlag. Die nächsten Kisten werden am Tag 11, 14 und 17 gebraucht. Von Tag 19 bis 25 muss der Kistenbauer jeden Tag eine Kiste produzieren. Er arbeitet nur noch für den übermütigen Seifensieder. Danach wird es schwierig: zwei Kisten am Tag, ab Tag 36 sind es schon drei Kisten am Tag, ab Tag 40 vier Kisten am Tag. Ab Tag 50 braucht es pro Tag 10 Kisten.
Es ist nicht zu schaffen! Der Kistenbauer weiß nicht, wo ihm der Kopf steht, ‚Burnout, Krankheit... Schlimmeres. Ab Tag 25 kommt der Kistenbauer nicht mehr hinterher, die Seifenstücke türmen sich unverpackt überall – und täglich werden es immer mehr... Die Welt erstickt an Seife!

Und genauso verhält es sich das mit dieser neuen Infektionskrankheit, dem Coronavirus.
Die Anzahl der infizierten Menschen wächst wie der Seifenberg des übermütigen Seifensieders Exsder. Zu Beginn geht es gemächlich: Exsder hat jeden Tag nur ein paar Stücke Seife mehr als sein Kollege Lisder. Vom Märchen in die Wirklichkeit übertragen heißt das, anfangs sind nur wenige Menschen infiziert. Aber bald geht es rund!
Und das ist eben kein Märchen.
Es ist eine einfache Rechnung:

Nachspann:
Es ist der 29. März 2020 in der Kleinstadt aus der ich berichte. An diesem Tag sind 18 Menschen in der Kleinstadt bekannt, die mit dem Coronavirus infiziert sind. Das klingt vergleichsweise harmlos, hat das Städtchen doch immerhin 20.000 Einwohner. Prozentual ist dieses Verhältnis derzeit deutsche Normalität. Wenn man die Zahl von 18 Kranken in der kleinen Stadt hochrechnet, und sie auf 100.000 Einwohner beziehen würde, wären immerhin 90 Menschen betroffen. Aber selbst das wäre alles noch im Rahmen. Zum Vergleich: In anderen Regionen werden derzeit 300-400 Krankheitsfälle auf 100.000 Menschen gezählt. Allerdings ist wohl auch bei uns die Zahl derer, die infiziert sind, aber keine Symptome zeigen, sehr viel höher. Das ist eine Eigenart der Erkrankung am Coronavirus.
Drei Beobachtungen lassen sich dennoch festhalten:
1.                    Bezogen auf die Einwohnerzahl sind die Krankheitsfälle minimal. Das heißt auch: Es gibt noch sehr viele Menschen, die sich infizieren können.
2.                    Das Virus breitet sich unregelmäßig aus. Das heißt: Es gibt noch viele weiße Flecken auf der Landkarte der Infektionen, wo das Virus noch auftauchen kann.
3.                    Die Fallzahlen in den betroffenen Gebieten können sehr sprunghaft anwachsen.
Hinter der dritten Beobachtung verbirgt sich das Phänomen des exponentiellen Wachstums. Die erste und zweite Beobachtung beschreiben die Bedingungen unter denen exponentielles Wachstum auftreten kann.
Exponentielles Wachstum ist typisch für das Wachstum einer großen Menge sich vermehrender Lebewesen – wie eine Population von Viren, eine Algenblüte oder „der Menschheit“. Ansteckende Krankheiten sind nur ein Beispiel.
Was bedeutet das mit Blick auf die Corona-Infektionen? Warum sind die sie beschreibenden Zahlen so schwer zu greifen? Weil unsere Alltagserfahrungen mit Wachstum wenig mit exponentiellem Wachstum zu tun haben. Wir erleben üblicherweise lineares Wachstum. Wer verfolgt schon die Entwicklung eine Algenblüte in einem Teich.

Vom Seifensieden zur Ausbreitung des Coronavirus.
Wenn es in einer Bevölkerung 100 infizierte Menschen gibt und die Infektionsrate bei 10 Prozent liegt, infizieren diese 100 Menschen in 10, 20, 30, 40 und 50 Tagen 259, 673, 1.745, 4.526 und 11.739 weitere Personen. Nur: Wie soll man sie ärztlich versorgen? Wie viele Krankenhausbetten stehen ihnen zur Verfügung?
Dieses Problem der Wirklichkeit entspricht im Märchen dem Problem von Exsders Kistenbauer: Man kommt nicht nach!
Zur aktuellen Situation: In Italien liegen die Wachstumsraten der täglich neu infizierten Menschen bei 10 Prozent. Alle sieben Tage verdoppelt sich dort die Zahl der Infizierten derzeit. In Deutschland geht das schneller: Bei uns verdoppelte sie sich bis zum 29. März etwa alle 5 Tage.
Die Wachstumsrate in der Region, in der unsere Kleinstadt liegt, ist näher bei 13 als bei 10 Prozent. Seit einigen Tagen ist sie stabil. Es ist eine einfache Prognose: Gesetzt den Fall am 17. März wären 100 Personen infiziert gewesen und wir würden von einem Wachstum von 10 Prozent ausgehen, dann müsste die Entwicklung wie folgt verlaufen. (In Klammern stehen die tatsächlichen Zahlen): 
18. März 110 (134), 19. März 121 (157), 20. März 133 (179), 21. März 146 (202), 22. März 161 (219), 23. März 177 (224), 24. März 195 (254), 25. März 214 (277), 26. März 236 (315) 27. März 259 (335).
Die Wachstumsrate ist aber höher als 10 Prozent, sie liegt näher bei 13 Prozent. Bei einer Wachstumsrate von 13 Prozent sind am 27. März etwa 1/1000 der Bevölkerung in der Region infiziert. Am Tag 50, dem 6. Mai, wird jede 7. Person erkrankt sein: 58.277 Menschen. Wenn die Wachstumsrate vom 18. März bis 6. Mai bei 10 Prozent bliebe, wären es „nur“ 11.739 erkrankte Personen. Also 46.538 Personen weniger als bei der 13-Prozent-Prognose.
Zum Zeitpunkt des Schreibens ist das Schicksal der 356 Personen, die in meinem Landkreis als infiziert identifiziert wurden, wie folgt: Etwa 85 haben die Infektion überwunden. Eine Person starb. Das Schicksal von etwa 25 Prozent der Personen ist bekannt. Etwa 10 Prozent der Erkrankten muß ins Krankenhaus. Davon liegt jeder fünfte auf der Intensivstation.  Heute könne die Krankenhäuser der Region die Menschen versorgen. Wenn die aktuelle Wachstumsrate der Infektionen mit dem Coronavirus beibehalten wird, werden in einigen Tagen die Möglichkeiten der Intensivmedizin in unserer Region aber vollständig ausgeschöpft sein. Dann wird es eng. Das sind keine Märchen, das ist Mathematik.

Fazit: Die Wachstumsrate der Infektionen muss reduziert werden. Es müssen weniger Menschen erkranken als in den vergangenen Wochen. Und deshalb brauchen wir die „soziale Distanzierung“ mit all ihren Maßnahmen. Sie verringern die Wahrscheinlichkeit, dass eine infizierte Person ohne sichtbare Symptome andere Personen infizieren kann.
Unkontrolliert verhält sich das Virus wie Exsder, der übermütige Seifensieder. Es ist wird unmöglich, die notwendige Versorgung zu leisten.
Maßnahmen wie Quarantäne und soziale Distanzierung sowie eine erhöhte Hygiene verlangsamen die Ausbreitung und sind daher so wichtig, damit die kranken Menschen versorget werden können.
Ende der Geschichte.
Bleibt bitte zuhause !

p.s. am 5. April war die Gesamtzahl der infizierten Menschen  481; es funktioniert!


© Ukko El’Hob 29. März 2020

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